Freitag, den 17. September 2010, der Tag 2 mit der Diagnose Krebs
Dank der Schlaftablette habe ich einigermassen geschlafen und wache um 9:00 Uhr auf und sofort ist dieser Gedanke an die Krankheit und die OP wieder da. Aber ich will mich jetzt auch nicht der Depression hingeben und zuhause warten, bis mir die Decke auf den Kopf fällt, also stehe ich um 9 Uhr auf, rufe kurz in der Firma bei Helge an und berichte, dass ich etwas später komme.
Gegen 10 Uhr in der Firma angekommen wartet mein Abteilungsleiter Helge schon auf mich, um mit mir über die neue Situation zu reden. Wir besprechen Dinge wie Projektübergaben und Jobs, die möglichst vorher geklärt werden sollen. Und über die Zeit nach der OP. Ich würde gerne nicht ewig lange zu Hause bleiben, sondern baldmöglichst wieder etwas tun, aber natürlich nicht unter Termindruck. Und natürlich ohne persönlichen oder telefonischen Kundenkontakt, zumindestens solange ich nicht wieder ordentlich sprechen kann.
Ich muss ja auch planen wie lange ich mich krankschreiben lasse, denn nach 6 Wochen endet die Lohnfortzahlung der Firma und ich bekomme nur noch Krankengeld der Krankenkasse, und sind nur rund 75% des alten Netto-Einkommens, das ist schon deutlich weniger. Das kann ich mir gerade jetzt nicht lange leisten. Aber es wird sich nach der OP entscheiden, wenn klar ist, ob ich Chemo und/oder Bestrahlung bekomme. Beide Therapien sind trotz der inzwischen schonenden Methoden immer noch anstrengend und ich rechne nicht damit, dass ich an solchen Tagen noch arbeiten kann. Jedenfalls nicht im Büro. Ich werde versuchen dann etwas „Work@Home“ zu arrangieren, dann kann ich die Arbeit ganz nach meiner Leistungsfähigkeit planen.
Mit Helge vereinbare ich auch, dass ich eine Rundmail in der Firma schreibe und so meine Situation offensiv erkläre, um Gerüchte über den Flurfunk zu vermeiden. Also schreibe ich:
Liebe Kollegen, bevor es der Flurfunk verbreitet: Bei mir wurde gestern ein Tumor am Zungenrand diagnostiziert. Das bedeutet, dass ich am 30.9. zur Operation ins UKE gehen werde, um den Tumor entfernen zu lassen. Vorher wird es noch ein paar Untersuchungen geben. Nach dem 30.9. sind ca. 14 Tage Krankenhaus geplant und danach evtl. Chemo und/oder Bestrahlung. Außerdem werde ich nach der OP das sprechen wieder lernen müssen, da doch ein ganzer Teil der Zunge entfernt werden muss. Bitte rechnet also den Oktober und den November nicht mit mir und plant mich nicht ein. Wenn es mein körperlicher Zustand erlaubt, dann werde ich sicherlich früher wieder anfangen (wahrscheinlich anfangs nur Teilzeit), aber das ist alles noch pute Spekulation. Bitte zögert nicht mich anzusprechen, wenn Euch danach ist, auch könnt Ihr gerne fragen, wenn ihr etwas wissen wollt. Soweit die schlechten Nachrichten zum Freitag..... Liebe Grüße Christian
Es gibt eine Menge wirklich freundlicher und zusprechender Mails, Kollegen kommen vorbei und berichten über ihre Erfahrungen mit Krebs in der Familie. Alles in Allem kommt schon ein Gefühl von Zuversicht auf, es tut auch gut in die Firma ganz viele Hilfs- und Beistandsangebote zu bekommen. Es wirkt plötzlich fast so, als sei die ganze Sache doch eher etwas wie „Zahnstein-Entfernen“. Unangenehm aber dann doch problemlos. Ist es aber doch nicht.
Neben einigen organisatorischen Dingen in der Firma baue ich den neuen Speicher für den neuen Rechner für gay-web.de ein, dann noch schnell das Betriebssystem aufspielen und dann muss noch ein Name her: Die neue Maschine wird harvey heissen. Harvey wird eingebaut und verkabelt und dann kann ich am Wochenende nebenbei ein bisschen remote basteln. Wieder die Möglichkeit mich auch mal abzulenken.
Plötzlich ist es kurz vor 16:00 Uhr und ich muss schnell die neue Brille für Tobi abholen, und um 16:30 Uhr geht mein Bus zum Flughafen und dann ab in den Flieger nach Frankfurt. Der A321 ist eine halbe Stunde zu spät in Hamburg, also wird das „Boarding“ eine extrem hektische Sache, die Piloten sehen die Verspätung sportlich und holen alles raus, so dass das Kabinenpersonal im Eiltempo Getränke verteilt und beim Einsammeln der Reste im Sturmschritt durch die Gänge marschiert. Mir soll es recht sein, dann muss Tobi nicht zu lange warten.
Im Flieger habe ich das interaktive Hörspiel „RaumZeit“ auf dem IPhone gehört, das ist schon sehr verrückt, macht aber Spaß! Und beim Aussteigen und Marsch zum Ausgang die Musik vom Soundtrack von Inception von Hans Zimmer, da dachte ich zwischendurch wirklich, dass ich in einem Film bin und nicht im realen Leben.
Tobi’s Bahn hat Verspätung, also direkt zur S-Bahn und dort fallen wir uns in die Arme. Das erste Mal seit der Diagnose. Mein kleines Kraftwerk gibt mir sofort wieder das Gefühl, dass ich bei ihm 100% fallenlassen kann und er uneingeschränkt für mich da ist. Das ist schon sehr sehr beruhigend und es entspannt mich sofort schon auf dem Bahnhof.
Abends reden wir noch in Ruhe über Alles, die Krankheit, die OP, meine Sorgen und Ängste, wie die Zeit nach der OP sein wird. Tobi bucht schnell noch einen Flug für das zweite Wochenende nach der OP. Mein toller Kerl! Tobi’s Vater hat aus seiner Firma noch ein Nahrungsergänzungspräparat mitgebracht, dass die DNS vor den aggressiven Giften der Chemo-Therapie schützt. Auch noch ein toller Schwiegervater! Ab sofort wird jeden Tag eine Kapsel Resveratrol eingenommen.
Tag 2 geht unspektakulär zu Ende, wir chillen noch eine Runde und zusammengekuschelt schlafen wir ein, und ich fühle mich perfekt geborgen.